Erinnerungen an ein Schülerleben in schweren Zeiten

Königslutter Aus dem Stadt- und Bildarchiv – Teil 2 von 2

Zur Einleitung

Vor 70 Jahren, am 24. September 1954, wurden 42 Schülerinnen und Schüler aus der Mittelschule Königslutter entlassen. Am 7. September 2024 traf sich der verbliebene Rest der Klasse zum 70-jährigen Jubiläum der Entlassung in Königslutter.

Nachdem der Autor in der letzten Ausgabe des Stadtbüttels seine Erlebnisse als Grundschüler in der einklassigen Volksschule in Rottorf geschildert hat, wird nun im zweiten Teil dargestellt, wie er seine Schülerzeit in der Mittelschule (später Realschule) Königslutter beendet hat.

Folge 2 – In der Mittelschule

Ich bestand 1948 die dreitätige Aufnahmeprüfung in der Mittelschule und wurde mit mehr als 40 weiteren Kindern daraufhin Schüler der Klasse 5b. Die Mittelschule war damals in dem großen Schulgebäude neben der Stadtkirche untergebracht. Sie besaß große, helle Klassenräume, aber außer dem Musikraum keine anderen Funktionsräume. Der große Schulhof mit den alten Linden hatte einen festen Untergrund und wurde auch für den Sportunterricht genutzt. Im Winter konnten wir in einer kleinen Sporthalle hinter dem Gasthof „Zum Amtsgericht“ (Zu späterer Zeit war dort das Kino die „Filmbühne“ untergebracht, darauffolgend eine Diskothek!) in der Marktstraße unseren Sport treiben. Deren Fußboden war bedeckt mit groben Spänen und Sägemehl. Vorhanden war ein „Rundlauf“ (von der Decke hängende Seile) und als Sportgeräte Kletterstangen, Böcke, Barren und Medizinbälle. Als Ballspiel war der „Völkerball“ bei uns sehr beliebt. In diesem Gebäude erlebten wir den Sportunterricht als eine sehr staubige Angelegenheit!

Die Mittelschule war vollkommen mit Schülern überfüllt. Tausende von Flüchtlingen und Vertrieben waren nach Königslutter gekommen, es fehlten an allen Schulen genügend Räume. Weil unsere Klasse so groß war, bekamen wir ein großes Klassenzimmer mit drei langen Tischreihen. Kleinere Klassen wurden als sog. „Wanderklassen“ in angemieteten Wohnungen und auch im Hotel „Stadtkeller“ am Markt untergebracht. Durch die Raumnot gab es zwangsläufig auch am Nachmittag noch Unterricht. Durch die große Schülerzahl in den Klassen war nur „Frontalunterricht“ möglich. Der Lehrer trug vor, stellte Fragen. Wer eine Antwort wusste, meldete sich und durfte reden. An der grünen Wandtafel standen oft Aufgaben, die wir in „Stillarbeit“ zu lösen hatten.

Die Lehrkräfte der Mittelschule waren bereits schon älter, aber doch in ihrer Art echte „Originale“! In der Schülerschaft sprach man nur mit ihren Spitznamen über sie. So etwa von unserem 1. Klassenlehrer „Papa“ Claus. Von kleiner Statur, hoch gebildet, sprachgewandt, war er sehr nachsichtig, wir mochten ihn. Genauso den „Ollen“ Ohm, unser Sportlehrer. Er hatte eine Sportfigur und weißes Haar. In den Pausen saß er in seinem „Kabuff“, einem kleinen Raum unter der Treppe im Flur. Uns Jungen ließ er bei Wind und Wetter auf dem Schulhof Freiübungen an langen Holzstangen machen. In der letzten Schulstunde am Samstag las er uns aus Krögers „Das vergessene Dorf“ vor.

Eine „gewichtige“ Person war Frl. Peschke, unsere Englischlehrerin, liebevoll „King Nobel“ genannt. „Pattchen“ Röhr marschierte in seiner typischen Haltung lehrend durch die Bankreihen und versuchte, uns die Liebe zur Heimat und zur Geschichte nahezubringen. Ich könnte zu allen etwas sagen, aber es würde in diesem Rahmen zu weit führen. Rektor Thilo Maatsch, Konrektor Schulz, Herr Michel, Frl. Lux, Frau Stielke, alle haben sie uns beeindruckt und geprägt. Ein ganz besonderer Typ war Walter Kypke, unser Hausmeister. Er hatte früher geboxt und brachte uns Jungen Boxschläge bei. Mancheinem half er in schwierigen Situationen und hatte stets ein offenes Ohr in allen Nöten.

Abgang von der Mittelschule war außergewöhnlich

Unser Abgang von der Mittelschule war etwas außergewöhnlich und das kam so: Einige „Spaßvögel“ aus der Klasse hatten die Idee, vor der Entlassungsfeier ein kleines Freudenfeuer zu entfachen und dabei die alten Schulhefte zu verbrennen. Aus alten Kartons hatten sie einen Sarg gebastelt und ihn schwarz bemalt. Die meisten von uns fanden das witzig und so versammelten wir uns am letzten Schultag in der großen Pause vor der Entlassungsfeier auf dem kleinen Hof hinter der Schule und erfreuten uns an den Flammen. Die Lehrer waren empört! Konrektor Schulz, unser Klassenlehrer, kam herbeigeeilt. Die meisten Mitschüler verschwanden lautlos, nur ein paar von uns versuchten, die Flammen zu löschen. Herr Schulz lief auf uns zu und gab dem Erstbesten eine Ohrfeige. Zufällig war ich das und so bekam ich an meinem letzten Schultag im Alter von 18 Jahren die erste und einzige Lehrerohrfeige. Ich fand das ungerecht! Unser „Spaß“ hatte Folgen:

Wir mussten alle Brandspuren beseitigen und die übliche Entlassungsfeier mit Ansprache und Zeugnisausgabe wurde gestrichen. Wir erhielten die Zeugnisse später formlos von der Schulsekretärin übergeben. An der festlichen Abschlussfeier im „Deutschen Haus“ nahm kein Lehrer teil.  –  Schade!

Trotz einiger widriger Umstände vermittelte uns die Mittelschule eine gute Bildungsgrundlage. Fast alle von uns hatten in ihren Berufslaufbahnen beachtlichen Erfolg, übernahmen sogar Leitungsfunktionen. Ich selbst hatte das Glück, Lehrer zu werden und noch 39 Jahre an der Mittelschule, später Realschule, Königslutter, in der ich einst Schüler gewesen bin, zu unterrichten. Dafür bin ich dankbar, es war eine schöne und erfüllte Zeit.

Wilfried Kraus

Bildtext: Mittelschule Königslutter, Klasse M 10, mit Lehrer Konrad Schulz, zur Schulentlassung.

Foto: Slg. Wilfried Kraus